Monat: Oktober 2022

Was am Ende bleibt – können wir uns neue Gewerbegebiete und mehr Einwohner leisten?

Zusammenfassung des Vortrags

Um dieser Frage nachzugehen, hatte die Bürgerinitiative Schraienwiese Urbach gemeinsam mit dem BUND Schorndorf und Umgebung am vergangenen Freitag den Betriebswirtschaftler Dr. Thilo Seko nach Urbach in die Auerbachhalle eingeladen.

Dr. Sekol befasst sich seit über 10 Jahren mit der Wirtschaftlichkeit von kommunalen Flächenerweiterungen und hat dazu zahlreiche Veröffentlichungen herausgebracht.

Zunächst erklärte Dr. Sekol, wie sich eine Kommune grundsätzlich finanziert. Pro Einwohner gibt es eine festgelegte sog. „Bedarfsmesszahl“, die die finanziellen Mittel festlegt, die die Kommune zu ihrer Finanzierung pro Einwohner benötigt. Vorrangig versucht die Kommune diesen Bedarf aus Steuereinahmen zu decken, die sie anteilig pro Bürger zugewiesen bekommt aus Einkommens-, Umsatz-, Grund- und Gewerbesteuer sowie einem Familienleistungsausgleich. Diese Steuereinnahmen reichen den wenigsten Kommunen aus. Den Differenzbetrag deckt die sog. „Schlüsselzuweisung“, eine Ausgleichszahlung, die der Kommune wie eine Art Sozialhilfe zugewiesen wird.

Bekommt eine Kommune mehr Einwohner, dann erhöht sich zunächst die Bedarfsmesszahl, d.h. die Kommune bekommt erst einmal mehr Geld pro Einwohner. Es erhöhen sich aber auch die Abzüge durch Umlagen und die Kosten für den steigenden Verwaltungsaufwand, den mehr Einwohner bedeuten. Am konkreten Beispiel bleiben von brutto 1.718 € pro Einwohner am Ende netto rd. 18 € Ertrag übrig, von dem dann auch noch die zusätzliche Infrastruktur wie Kindergartenplätze und Schulbetreuung, Straßen, Laternen, Kanalisation, ÖPNV, Freizeitangebote usw. finanziert werden muss.

Ähnlich sieht die Bilanz bei der Erschließung von neuen Baugebieten aus. Den Einnahmen durch den Grundstücksverkauf und höhere Steuerzuweisungen durch mehr Einwohner stehen erhebliche Ausgaben durch die Reduktion beim kommunalen Finanzausgleich und hohe Folgekosten gegenüber. Diese Folgekosten werden oft nicht richtig mit einberechnet. Es braucht aber Rückstellungen für den Unterhalt der Infrastruktur und es laufen enorm hohe Verwaltungskosten bei der Realisierung von Baugebieten auf.
Im angeführten Beispiel führt die Simulation einer Investitionsrechnung für ein Baugebiet von 10 ha Größe über einen Zeitraum von 25 Jahren unter Berücksichtigung aller Faktoren führt laut Dr. Sekol mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Totalverlust für die Gemeinde von über 6,9 Mio. €!

Sind dann vielleicht wenigstens neue Gewerbegebiete die finanzielle Rettung für die von Finanznot gebeutelten Kommunen, so wie es landauf, landab propagiert wird?
Auch hier zeigte Dr. Sekol am Rechenbeispiel, dass von den Mehreinnahmen ein erheblicher Teil Abzüge, Umlagen und Rückstellungsbeträge anfallen, so dass der Kommune am Ende rein betriebswirtschaftlich ca. 15% übrig bleiben. Von 1 Mio. geschätzten zusätzlichen Einnahmen wären das in der Beispielsrechnung gerade mal 152.000 € jährlich. Dafür nehmen wir all die ökologischen Nachteile in Kauf, die mit dem zusätzlichen Flächenverbrauch einhergehen: Versiegelung von wertvollem Boden, der weder zur CO2-Bindung noch zur Grundwasserneubildung zur Verfügung steht, Verlust von weiteren landwirtschaftlichen Flächen, wir produzieren mehr Verkehr und Lärm, evtl. steigt durch mehr Arbeitsplätze der Wohnraumbedarf weiter an … usw.

Die Entscheidung, neue Gewerbegebiete zu realisieren und die Einwohnerzahl durch weitere Wohngebiete zu steigern, ist letztendlich eine politische und liegt bei den Mandatsträgern. Zwar ist die Kommune nicht grundsätzlich dazu verpflichtet, diese Vorhaben konkret einer Wirtschaftlichkeitsprüfung zu unterziehen. Das wird leider auch viel zu selten gemacht! Jedoch ist aber jede Kommune per Gesetz dazu verpflichtet, „den Haushalt sparsam und wirtschaftlich zu führen“ (Gemeindeordnung §77) sowie „sparsam und schonend mit Grund und Boden umzugehen“ (Baugesetzbuch §1). Darum sollte die Wirtschaftlichkeit immer auch eine wichtige Rolle spielen und die Zahlen so transparent als möglich gemacht werden.

Rund 70 Zuschauerinnen und Zuschauer, teilweise aus Urbach aber auch aus umliegenden Kommunen, ließen diese überraschenden Aussagen auf sich wirken. In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde kam deutlich zum Ausdruck, wie komplex das Thema ist, und dass viele unterschiedliche Bedürfnisse in den Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Eben deshalb wurde nochmals der Wunsch geäußert, das Thema offen und transparent unter breiter Bürgerbeteiligung zu diskutieren, bevor bindende Entscheidungen fallen.

Abgerundet wurde der Abend durch den Film „Kein schöner Land“ von Sabine Winkler. Gezeigt wurde der enorme Flächenverbrauch im Kreis Reutlingen. Es kamen Anwohner und Experten zu Wort und am Schluss blieb die Frage: Wollen und können wir wirklich so weitermachen?

Der Vortrag kann übrigens auf der Homepage der Bürgerinitiative Schraienwiese in seiner vollen Länge angeschaut werden: www.schraienwiese.de

Buchempfehlung:
„Der Flächenwahnsinn?! Was bei Siedlungsexpansionen falsch läuft und was wir ändern müssen“ Dr. Thilo Sekol, Cavallier Verlag Göttingen 2020

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